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Veränderungen des musikalischen Tempos bei Dirigenten

Author(s) / Creator(s)

Jennen, Manuel
Gembris, Heiner

Abstract / Description

In der Literatur über Musiker stößt man häufig auf die Behauptung, daß betagte Künstler, insbesondere Dirigenten, langsamere musikalische Tempi wählen. Auf eine empirische Absicherung konnte sich die Hypothese bislang nicht stützen. Zwar belegen Untersuchungen über den Alterungsprozeß allgemein, daß körperliche und kognitive Fertigkeiten sich aufgrund der Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit, Schwächung der Muskeln und des Kreislaufsystems im Laufe des Erwachsenen­ alters verlangsamen. Befragungen über musikalische Vorlieben ergaben zudem, daß betagte Menschen langsamere Tempi bevorzugen. Andererseits belegen Versuche der Expertiseforschung, daß Musiker durch intensives Üben ihre Fähigkeit zum Spielen rascher Tempi bis ins Alter auf hohem Niveau erhalten können. Auch zeigen Arbeiten über die „innere Uhr", daß sich alte Menschen, die ein aktives Leben führen, in ihrer Wahrnehmung kürzerer Zeitintervalle nicht von jungen Menschen unterscheiden. Um der Frage der Tempi betagter Dirigenten auf den Grund zu gehen, wurden die Aufführungsdauern von 46 Aufnahmen der Opern „Don Giovanni" und „Die Zauberflöte" von Wolfgang Amadeus Mozart untersucht, darunter zahlreiche Dubletten einzelner Dirigenten. Zwei Hypothesen wurden geprüft: 1) Die Spielzeiten der Aufnahmen werden mit zunehmen­ dem Alter der Dirigenten langsamer. 2) Das Aufführungstempo wird generell seit den 1950er Jahren schneller. Die zweite Hypothese beruht auf der Verbreitung der historischen Aufführungspraxis, die nach Meinung vieler Musikwissenschaftler schnellere Tempi verlangt. Überraschenderweise bestätigten sich beide Hypothesen jeweils nur in bezug auf eine Oper. Im Falle des „Don Giovanni" wurden die Aufnahmen in Abhängigkeit vom Dirigentenalter signifikant langsamer, während das Aufnahmejahr keine Rolle spielte. Die Einspielungen der „Zauberflöte" wurden über die Aufnahmejahre hinweg signifikant schneller, das Alter der Dirigenten übte indes keinen Einfluß aus. Als Ursache für das Ergebnis kommen rezeptionsgeschichtliche Unterschiede zwischen den Opern in Frage. Bei Mozarts „Don Giovanni" wirkt vermutlich noch immer die romantische Interpretation des 19. Jahrhunderts nach, während die „Zauberflöte", deren Musik und Libretto in den letzten Jahrzehnten Kritik und Umbewertungen erfahren haben, die Experimentierfreude der Dirigenten geweckt hat - auch die der älteren. Als Ergebnis läßt sich festhalten: Dirigenten zeigen im Alter die Tendenz zur Wahl langsamerer Tempi. Das Phänomen kann jedoch durch willentliche Anstrengung ausgeglichen werden, wenn etwa allgemeine Interpretationsentwicklungen den langsamen Tempi entgegenstehen.
Literature about musicians, especially about conductors, often contains the currently unsubstantiated notion that elderly artists choose slower tempos than younger conductors. Such statements for example are found in early discourses on conducting by Hector Berlioz and Richard Wagner and in contemporary reviews of records and concerts. Although this specific hypothesis has not been empirically supported, research on aging provides general evidence that physical and cognitive abilities slow down in the course of life due to decreased efficiency of neural transmission and the weakening of the muscles and the blood circulation. Also, research on musical preferences shows that elderly people prefer slower tempos. However, musicians have been able to preserve their skill on playing fast tempos on a high level of performance into old age when an appropriate practice regimen is maintained. Furthermore, studies regarding the "internal clock" of elderly people demonstrate that those who live an active life do not differ from younger people when estimating the passing of short time intervals. This study investigated the tempo choice of elderly conductors. The data consisted of the performance duration of 46 recordings of Mozart's operas "Don Giovanni" and "The Magie Flute". Some conductors were represented by more than one recording. Our two hypotheses make predictions about the possible correlation of performance durations with the age of the conductors and the idea that performance tempos have accelerated since the 1950s. The second hypothesis was derived from recent findings in historical performance practice. The results showed an interesting pattern. In the case of "Don Giovanni", recordings slowed down significantly with the conductor's age, but the recording year had no influence. Conversely, the recordings of "The Magie Flute" accelerated significantly over the years, yet the conductor's age was not significantly correlated with the performance durations. The different performance histories of the two operas may help explain our results. "Don Giovanni" is still perceived as part of the romantic tradition of the 19th century, while the music and libretto of "The Magie Flute" have been criticised and re-evaluated in the past decades. Although even some elderly conductors may have tried newer and faster conceptions, as a group they tend to choose slower tempos. This tendency may be overcome by deliberate efforts if general developments in performance practice discourage slow tempos. Our findings are consistent both with the results of research on musical preferences across the life span and with research on the maintenance of musical skills with intensive practice in old age.

Keyword(s)

Künstler Musik Tempo Altern Artists Music Tempo Aging

Persistent Identifier

Date of first publication

2000

Is part of

Behne, K.-E., Kleinen, G. & de la Motte-Haber, H. (Hrsg.). (2000). Musikpsychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie. Band 15: Die Musikerpersönlichkeit. Göttingen, Deutschland: Hogrefe.

Publisher

Hogrefe

Citation

Jennen, M. & Gembris, H. (2000). Veränderungen des musikalischen Tempos bei Dirigenten. In K-E Behne, G Kleinen & H de la Motte-Haber (Hrsg.), Musikpsychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie. Band 15: Die Musikerpersönlichkeit. Göttingen, Deutschland: Hogrefe.
  • Author(s) / Creator(s)
    Jennen, Manuel
  • Author(s) / Creator(s)
    Gembris, Heiner
  • PsychArchives acquisition timestamp
    2020-08-20T10:06:52Z
  • Made available on
    2020-08-20T10:06:52Z
  • Date of first publication
    2000
  • Abstract / Description
    In der Literatur über Musiker stößt man häufig auf die Behauptung, daß betagte Künstler, insbesondere Dirigenten, langsamere musikalische Tempi wählen. Auf eine empirische Absicherung konnte sich die Hypothese bislang nicht stützen. Zwar belegen Untersuchungen über den Alterungsprozeß allgemein, daß körperliche und kognitive Fertigkeiten sich aufgrund der Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit, Schwächung der Muskeln und des Kreislaufsystems im Laufe des Erwachsenen­ alters verlangsamen. Befragungen über musikalische Vorlieben ergaben zudem, daß betagte Menschen langsamere Tempi bevorzugen. Andererseits belegen Versuche der Expertiseforschung, daß Musiker durch intensives Üben ihre Fähigkeit zum Spielen rascher Tempi bis ins Alter auf hohem Niveau erhalten können. Auch zeigen Arbeiten über die „innere Uhr", daß sich alte Menschen, die ein aktives Leben führen, in ihrer Wahrnehmung kürzerer Zeitintervalle nicht von jungen Menschen unterscheiden. Um der Frage der Tempi betagter Dirigenten auf den Grund zu gehen, wurden die Aufführungsdauern von 46 Aufnahmen der Opern „Don Giovanni" und „Die Zauberflöte" von Wolfgang Amadeus Mozart untersucht, darunter zahlreiche Dubletten einzelner Dirigenten. Zwei Hypothesen wurden geprüft: 1) Die Spielzeiten der Aufnahmen werden mit zunehmen­ dem Alter der Dirigenten langsamer. 2) Das Aufführungstempo wird generell seit den 1950er Jahren schneller. Die zweite Hypothese beruht auf der Verbreitung der historischen Aufführungspraxis, die nach Meinung vieler Musikwissenschaftler schnellere Tempi verlangt. Überraschenderweise bestätigten sich beide Hypothesen jeweils nur in bezug auf eine Oper. Im Falle des „Don Giovanni" wurden die Aufnahmen in Abhängigkeit vom Dirigentenalter signifikant langsamer, während das Aufnahmejahr keine Rolle spielte. Die Einspielungen der „Zauberflöte" wurden über die Aufnahmejahre hinweg signifikant schneller, das Alter der Dirigenten übte indes keinen Einfluß aus. Als Ursache für das Ergebnis kommen rezeptionsgeschichtliche Unterschiede zwischen den Opern in Frage. Bei Mozarts „Don Giovanni" wirkt vermutlich noch immer die romantische Interpretation des 19. Jahrhunderts nach, während die „Zauberflöte", deren Musik und Libretto in den letzten Jahrzehnten Kritik und Umbewertungen erfahren haben, die Experimentierfreude der Dirigenten geweckt hat - auch die der älteren. Als Ergebnis läßt sich festhalten: Dirigenten zeigen im Alter die Tendenz zur Wahl langsamerer Tempi. Das Phänomen kann jedoch durch willentliche Anstrengung ausgeglichen werden, wenn etwa allgemeine Interpretationsentwicklungen den langsamen Tempi entgegenstehen.
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  • Abstract / Description
    Literature about musicians, especially about conductors, often contains the currently unsubstantiated notion that elderly artists choose slower tempos than younger conductors. Such statements for example are found in early discourses on conducting by Hector Berlioz and Richard Wagner and in contemporary reviews of records and concerts. Although this specific hypothesis has not been empirically supported, research on aging provides general evidence that physical and cognitive abilities slow down in the course of life due to decreased efficiency of neural transmission and the weakening of the muscles and the blood circulation. Also, research on musical preferences shows that elderly people prefer slower tempos. However, musicians have been able to preserve their skill on playing fast tempos on a high level of performance into old age when an appropriate practice regimen is maintained. Furthermore, studies regarding the "internal clock" of elderly people demonstrate that those who live an active life do not differ from younger people when estimating the passing of short time intervals. This study investigated the tempo choice of elderly conductors. The data consisted of the performance duration of 46 recordings of Mozart's operas "Don Giovanni" and "The Magie Flute". Some conductors were represented by more than one recording. Our two hypotheses make predictions about the possible correlation of performance durations with the age of the conductors and the idea that performance tempos have accelerated since the 1950s. The second hypothesis was derived from recent findings in historical performance practice. The results showed an interesting pattern. In the case of "Don Giovanni", recordings slowed down significantly with the conductor's age, but the recording year had no influence. Conversely, the recordings of "The Magie Flute" accelerated significantly over the years, yet the conductor's age was not significantly correlated with the performance durations. The different performance histories of the two operas may help explain our results. "Don Giovanni" is still perceived as part of the romantic tradition of the 19th century, while the music and libretto of "The Magie Flute" have been criticised and re-evaluated in the past decades. Although even some elderly conductors may have tried newer and faster conceptions, as a group they tend to choose slower tempos. This tendency may be overcome by deliberate efforts if general developments in performance practice discourage slow tempos. Our findings are consistent both with the results of research on musical preferences across the life span and with research on the maintenance of musical skills with intensive practice in old age.
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  • Publication status
    publishedVersion
  • Review status
    peerReviewed
  • External description on another website
    https://www.pubpsych.de/get.php?id=0144343
  • Citation
    Jennen, M. & Gembris, H. (2000). Veränderungen des musikalischen Tempos bei Dirigenten. In K-E Behne, G Kleinen & H de la Motte-Haber (Hrsg.), Musikpsychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie. Band 15: Die Musikerpersönlichkeit. Göttingen, Deutschland: Hogrefe.
  • ISBN
    3-8017-1206-0
  • Persistent Identifier
    https://hdl.handle.net/20.500.12034/2963
  • Persistent Identifier
    https://doi.org/10.23668/psycharchives.3348
  • Language of content
    deu
  • Publisher
    Hogrefe
  • Is part of
    Behne, K.-E., Kleinen, G. & de la Motte-Haber, H. (Hrsg.). (2000). Musikpsychologie. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie. Band 15: Die Musikerpersönlichkeit. Göttingen, Deutschland: Hogrefe.
  • Keyword(s)
    Künstler
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    Musik
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    Tempo
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    Artists
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    Music
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  • Keyword(s)
    Tempo
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  • Keyword(s)
    Aging
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  • Dewey Decimal Classification number(s)
    150
  • Title
    Veränderungen des musikalischen Tempos bei Dirigenten
    de_DE
  • Title
    Changes in the musical tempo of conductors [Translated with www.DeepL.com]
    en_US
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    bookPart
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